Eine der bekanntesten biblischen Erzählungen ist die Geschichte des Hiob. Sie erzählt von einem gerechten Mann, der trotz seines unerschütterlichen Glaubens unsägliches Leid erfährt und geprüft wird. Alfred Döblin greift diese Erzählung in seinem Roman Berlin Alexanderplatz auf und adaptiert sie, um den inneren Kampf seines Protagonisten Franz Biberkopf darzustellen. Als Basis für diesen Blogeintrag dienen der Deutschunterricht am Gymnasium, die biblische Hiob-Geschichte sowie Döblins literarische Bearbeitung dieser in Berlin Alexanderplatz und weitere Quellen, wie am Ende des Blogs vermerkt.
In Döblins Werk tritt die Hiob-Geschichte am deutlichsten im Kapitel „Gespräch mit Hiob, es liegt an dir, Hiob, du willst nicht“ hervor. Dieses Kapitel ist zentral eingebettet im vierten Buch, zwischen den beiden Teilen der berühmten Schlachthofszene. Hier wird Franz Biberkopf, gebrochen und zermürbt nach einem weiteren Schicksalsschlag, geschildert. Zugleich greift Döblin die biblische Geschichte des leidenden Hiob auf, allerdings in einer angepassten Form. In dieser Version liegt Hiob zerstört am Boden, geplagt von Krankheit und Verlust seiner Familie, und klagt: „Keiner will mir helfen, nicht Gott, nicht Satan, kein Engel, kein Mensch“ (S. 161). Satan antwortet daraufhin scharf, dass Hiob selbst keine Veränderung wolle. Erst als Hiob am Morgen stumm auf sein Gesicht fällt, beginnt die Heilung seiner Geschwüre.
Franz und Hiob teilen ähnliche Schicksalsschläge: Beide werden zu Boden geworfen. Hiob verliert alles, was ihm lieb ist – seine Familie, sein Hab und Gut, seine Gesundheit. Franz, der zu Beginn des Romans nach vier Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wird, schwört sich, ein „anständiger Mensch“ zu werden. Doch bald holt ihn die Berliner Unterwelt ein. Verraten von seinem vermeintlichen Freund Reinhold liegt Franz am Boden und sucht sich Erlösung im Alkohol.
Eine interessante Szene spielt sich gegen Ende des vierten Buches von Berlin Alexanderplatz ab. Nach der Konfrontation mit Minnas Mann sucht Franz Zuflucht in einer Bar und betrinkt sich. Hier spricht ihn eine körperlose Stimme an, eine Stimme, die sich später als der Tod entpuppen wird. Die körperlose Stimme und der am Boden zerstörte Franz lassen in dieser Szene starke Parallelen zur Hiob-Geschichte erkennen.
Trotz der Parallelen zwischen Franz und Hiob gibt es einen entscheidenden Unterschied: Franz ist, im Gegensatz zu Hiob, an seinem Unglück selbst schuld. Der Tod aus Berlin Alexanderplatz beschreibt ihn als „blind, frech und hochnäsig“ (S. 486), Eigenschaften, die ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringen. Hiob hingegen ist ein gerechter und gottesfürchtiger Mann, dessen Leid nicht selbstverschuldet ist. Dieser Unterschied mag irritieren, lässt sich jedoch durch einen besonderen interpretativen Ansatz auflösen: Franz sieht sich selbst als Hiob.
Franz vergleicht sein Leiden mit dem Hiobs und glaubt zunächst, unschuldig Opfer von äußeren Umständen und der Bosheit anderer geworden zu sein. Doch im Verlauf des Romans – vor allem nach dem dritten großen Schlag, dem Tod seiner Geliebten Mieze – beginnt er, sich selbst als Verursacher seines Leids zu erkennen. Dies markiert einen Wendepunkt: Erst durch diese Einsicht kann Franz seine Schuld akzeptieren und einen Weg zur inneren Heilung finden. Wie Hiob, der am Boden liegend schließlich eine Erkenntnis gewinnt, begreift Franz, dass er sich seiner Verantwortung stellen muss.
Döblins Bearbeitung der Hiob-Geschichte ist vielschichtig und faszinierend. Während die biblische Erzählung von einem gerechten Mann handelt, dessen Leiden eine Prüfung seines Glaubens darstellt, wird in Berlin Alexanderplatz eine naturalistischer Ansatz gewählt. Franz’ Leid ist nicht göttliche Prüfung, sondern Konsequenz seines Handelns. Dennoch erinnert die Art, wie Franz sein Schicksal annimmt und durch Einsicht schließlich zu einer Art Erlösung findet, an den biblischen Hiob.
Döblin schafft es, die Hiob-Erzählung in den Großstadtdschungel Berlins zu übertragen und so universelle Fragen nach Schuld, Leid und Erlösung in einen modernen Kontext zu stellen. Die Parallelen zwischen Franz und Hiob zeigen, dass Döblin nicht nur die biblische Vorlage übernimmt, sondern sie kreativ erweitert. Durch Franz Biberkopfs Kämpfe wird die Geschichte von Hiob für die Leser greifbar und rückt die Frage nach der Verantwortung des Einzelnen für sein eigenes Leben ins Zentrum.
https://www.die-bibel.de/bibel/LU17/JOB.1
https://de.wikipedia.org/wiki/Ijob
https://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/Doeblin/motive.htm